Ihre Söhne Andy und Jamie hat die zierliche Schottin eigenhändig in die Weltklasse gehievt. Nun will Judy Murray auch Britanniens Tennisdamen mit erlesenem Nachwuchs versorgen. Mir hat die scheinbar eiserne Lady von ihrem Leben zwischen Träumen, Tragödien und Triumphen erzählt.
„Dragon Mom“ wird sie in den etwas blumigeren Boulevard-Stories genannt, in anderen einfach nur als „verbissen“ oder „überehrgeizig“ abgestempelt, wenn sie mit geballten Fäusten und gefletschten Zähnen in den Tennisarenen dieser Welt gesichtet wird. Fix ist, dass Judy Murray (56) ihren beiden Söhnen Andy und Jamie den Weg in die Weltklasse quasi im Alleingang geebnet hat. Andy, 28 und im Vorjahr etwa Sieger der Erste-Bank-Open in der Wiener Stadthalle aber auch schon Olympionike, Triumphator bei den US-Open und 2013 Großbritanniens erste Wimbledon-Champion im Einzel seit 1936 (!), bildet mit Roger Federer, Novak Djokovic und Rafael Nadal seit Jahren die „Big Four“ im Welttennis. Der zwei Jahre ältere Jamie wiederum zählt konstant zu den besten Doppelspielern der Welt.
Mutterherz, was willst du mehr, könnt‘ man fragen, aber wer, wie wir, die drahtige Schottin aus dem 9000-Seelen-Städtchen Dunblane persönlich treffen darf, dem wird schnell klar, dass Lorbeeren nicht ihr bevorzugtes Ruhekissen sind. In den frühen 1970er Jahren selbst Schottlands beste Tennisspielerin, entscheidet sich die Fußballer-Tochter mit 17 für eine Profilaufbahn, gibt das Tourleben aber nach heftigen Heimwehattacken und einem Schlüsselerlebnis als Raubopfer in der City von Barcelona schnell wieder auf. Daheim in Dunblane nimmt Judy zunächst einen Job als Hilfstrainerin im örtlichen Tennisklub an und begeistert dort die Volksschulkids für ihren Sport. Bald reist sie mit ihren Schützlingen quer durchs tennistechnisch dünn besiedelte Schottland: „Damals gab es im ganzen Land nur vier Tennishallen. Bei unserem üblen Wetter ein großer Nachteil. Ich selber habe im Winter kaum Tennis gespielt sondern mich mit Badminton fit gehalten.“
Dass dann knapp nach 1990 der Wohnzimmerteppich zum Court und die Couch zum Netz umfunktioniert werden, resultiert aus dem sehr früh erkennbaren Talent von Judys älterem Sohn Jamie, den sie 1986, nach sechs Jahren Ehe mit Kioskketten-Manager Willie Murray, auf die Welt bringt. Und bald nach seinen ersten Schritten geigt dann schon der 15 Monate jüngere Andy mit. Die polysportiven Spielereien mit den lieben Kleinen bilden allerdings eher die Ausnahme, die Regel sind Turnierreisen und Coachings oft bis spät in die Nacht. Die Erziehung der eigenen Kinder ist im Hause Murray deshalb zunächst größtenteils Männersache – bis die Buben selbst unter die Besten des Landes vorstoßen und mit ihrer Cheftrainerin und Mutter auf Tour gehen. Zunächst nur durch Schottland, bald durch ganz Großbritannien.
Noch bevor Jamie und Andy dazu das europäische Festland und letztlich auch die größten Nachwuchsturniere auf der ganzen Welt erobern können, beschert der März des Jahres 1996 ihrer Familie ein dramatisches Schlüsselerlebnis. Nur mit sehr viel Glück, unter dem Tisch des Direktors versteckt, entrinnen die Buben dem so fatalen Amoklauf des Pfadfinderführers Thomas Hamilton, der 16 Pennäler und deren Lehrerin erschießt. Ein Vorfall, für den sich Andy Murray in seiner 2008 erschienen Biografie „als damals zu jung, um ihn in seiner vollen Tragweite zu realisieren“ bezeichnete, der allerdings seiner Mutter einen tiefsitzenden Schock beschert: „Ich habe die Nachricht über einen Vorfall in der Schule im Radio gehört, bin hin gerast und habe dort nach bangen Stunden mitbekommen, dass sich die Eltern einer bestimmten Klasse zusammenfinden sollen. Lange habe ich mich sehr schlecht gefühlt, weil ich gedacht habe, Gott sei Dank, meine Jungs sind in Sicherheit.“
Sicher ist, dass dieses traumatische Ereignis die Murray-Brothers noch deutlich dichter mit ihrer Mutter verschweißt – auch über deren Trennung von Vater Willie im selben Jahr hinaus. Was danach folgt, ist mittlerweile britische Sportgeschichte. Judy Murray coacht ihre Söhne mitten in die Jugend- und Juniorenweltklasse. Sie ermöglicht dem Älteren, dessen Erfolge im Einzel zusehends rarer werden, die Konzentration aufs Doppel und lässt ihn unter Aufbietung sämtlicher Finanzreserven der Familie bei einem teuren Spezialtrainer in den Niederlanden üben. Der Jüngere wiederum wird bereits mit 14 und nicht nur von seiner Mutter als Ausnahmetalent mit Top-10-Potenzial identifiziert. Endgültig den Groschen schmeißt beim hoch aufgeschossenen Lockenkopf Andy dann ein Gespräch mit dem gleichaltrigen Rafael Nadal während eines Turniers in Spanien. „Er hat mich damals in sehr trotzigem Ton angerufen und mir erklärt, dass Rafa längst auf die Schule pfeift und auf Mallorca jeden Tag des Jahres bei bestem Wetter intensiv trainiert statt im schottischen Regen zu stehen“, erinnert sich Judy Murray im Gespräch mit dem Sportmagazin anlässlich einer Trainerfortbildung des Österreichischen Tennisverbandes. Logisch, dass sie damals alle Hebel in Bewegung setzt, um den Filius in einer spanischen Topakademie unterzubringen. Das harte Ganzjahrestraining mit gleichwertigen Partnern trägt dralle Früchte, Judy zieht sich vom Posten der Trainerin auf jenen der wichtigsten Beraterin ihrer Söhne zurück und reist als solche seit damals mit ihnen um die Welt.
Kann Judy Murray übriges wegen ihres 2011 angetretenen Hauptjobs als britische Federations-Cup-Kapitänin oder als Schirmherrin ihrer auf Mädchen zwischen fünf und acht zugeschnittenen Nachwuchsinitiative „Miss Hits“ nicht in der Box von Andy oder Jamie Platz nehmen, schaut sie auch nicht im Fernsehen zu: „Es macht mich zu nervös, nicht wenigstens anfeuern zu können. Daheim lenke ich mich dann mit etwas ab, das ich gar nicht mag – Geschirr spülen und aufräumen.“ Selbst Aufzeichnungen gibt sie sich nur, wenn es Videos von Siegen sind: „Alles andere lass ich mir von ihnen am Telefon erklären.“
Aber nicht nur als Analytikerin sondern auch als Ratgeberin ist Judy unersetzlich. Nachdem etwa Andys prominenter Erfolgscoach Ivan Lendl, einst selbst lange Nummer 1, keinen Bock mehr aufs ewige Herumreisen hat, rät sie ihrem Sohn – mittlerweile vielfacher Preisgeld- und Werbemillionär , Frankreichs einstige Starspielerin Amelie Mauresmo als Trainerin zu verpflichten: „Mit Ivan hat Andy den eisernen Erfolgswillen verinnerlicht, Amelie wiederum hat sein Spiel kreativer gemacht. Außerdem ist ihre tolle Zusammenarbeit ein wunderbares Signal im Sinne der Gleichberechtigung.“ Auch mit der Frau an der privaten Seite von Andy Murray ist sie als Schwiegermutter hochzufrieden. Seit letztem April ist ihr „Kleiner“ mit Kim, der Tochter des englischen Starttrainers Nigel Sears verheiratet.
Und Judy Murray selbst? Die lebt seit 2005, nach bereits acht Jahren der Trennung, von Willie Murray geschieden, beendet im Vorjahr auch ihre langjährige Beziehung zu einem ehemaligen Badminton-Profi. Gerüchte über einen neuen Mann in ihrem Leben dementiert sie beharrlich. Fix scheint, dass es wohl kein Tet-a-tet mit ihrem Profi-Partner bei der heuer ausgestrahlten Staffel von „Strictly Come Dancing“ – Anton du Beke gegeben hat. Dieser hat die Tanzkünste der hölzern wirkenden Tennistrainerin Tage tatsächlich mit „She was s**t!“ beschrieben. Viel charmanter versteht es da die Geschmähte selbst, ihre Kompliment ein die Öffentlichkeit zu streuen. Via Twitter tut sie schon vor Jahren ihre Vorliebe für den spanischen Tennisfeschak und Konkurrenten ihres Sohnes Andy, Feliciano Lopez, kund und postet „Ooooooooh Deliciano ….. looking good out there, as always“. Ein Tweet, der ihr damals zwar eine öffentliche Rüge des Sohnemanns („Das ist ekelhaft!“) einbringt, aber den größeren Teil ihrer weiblichen Follower endgültig sicher macht: Diese Frau versteht wirklich was vom Tennis …
* Die Story basiert auf einem Gespräch im Oktober 2015 im Rahmen der nunmehrigen „Upper Austria Ladies“
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